Es dauerte noch eine Viertelstunde bis die Geschäfte schlossen.
Lona wollte aber unbedingt noch in diesen neuen Kurzwarenladen in Fällanden, um sich ein paar
Sommerschuhe zu kaufen. Sie hatte sie im Internet gesehen und wusste,
dass die Schuhe in diesem Laden zu haben sind. Ich gab zu bedenken,
dass wir in einer Viertelstunde kaum die Strecke vom Berner ins
Züricher Oberland schaffen würden. Lona war aber von der Idee
besessen und liess sich nicht durch meine kleinlichen Einwände von
ihrem Plan abbringen. Schliesslich führte seit dem Fahrplanwechsel
im letzten Winter eine neue Strassenbahnlinie direkt dorthin und Lona
wollte gleich mal testen, ob die was taugt. Wir begaben uns also
schleunigst zur neuen Haltestelle am Berntor und mussten auch nicht
lange auf die Bahn warten, die bereits hinter der Burg herangerumpelt
kam. Ich traute meinen Augen nicht. Die Bahn, ein graues Ungetüm
aus längst vergangener Zeit. Die zweigeteilte Bugscheiben
erinnerte mich ein wenig an die GT8SU Züge wie man sie etwa noch
auf der U75-Strecke von Düsseldorf nach Neuss sieht. "Diese Gurke schafft es in der
verbleibenden Zeit höchstens noch bis auf den nächsten
Schrottplatz" scherzte ich, süffisant lächelnd in Richtung
Lona. Sie aber ignorierte mich und wand sich mit einer grazilen Geste
in die nächste, freie Sitzschale.
Was wollte ich tun? Ich ergab mich meinem Schicksal und setzte mich zu
Lona. Schnell beschlich mich das unheimliche Gefühl in einer
fahrenden Kunstoffröhre zu sitzen. Dazu muss ich erwähnen,
dass ich mich eigentlich nur umgeben von Stahl und Stein wirklich wohl
fühle. Aluminium geht gerade noch wenn es draussen nicht kalt und
dunkel ist. Flugreisen im Winter probiere ich auszuweichen. Eine
Strassenbahn aus Kunststoff
könnte auch genausogut aus durchnässtem Zeitungspapier sein
oder aus Brokkoli. Ich war aufgekratzt und fühlte mich unsicher.
Gefangen in dieser schieren Angst, war ich nicht mehr in der Lage auf
meine Umgebung zu achten. Kurz nach unserer Abfahrt zupfte mich
Lona auch schon wieder am Ärmel und wollte aussteigen. Wir
wären da verkündete sie. Ungläubig guckte ich sie an.
Die Ansage aus den Lautsprechern folgte umgehend und in ungewohnt
ruppigem Ton: "Nächster Halt und Endhaltestelle,
Fällanden-Zilzentrum. Alle raus!". Es mussten gerade mal fünf
Minuten verstrichen sein. Meine Verwirrung hielt mich gefangen. Als ich
mich endlich aus meinem Sitz schälte stand Lona bereits ungeduldig
auf der Strasse und sah sich nach mir um. Beim Ausstieg wurde nun aber
durch die anderen Fahrgäste getrödelt und ich kam gerade
nicht mehr raus bevor sich die Strassenbahntüre wieder schloss.
Den Fuss, den ich beherzt zwischen die Gummilippen der Türe schob,
hatte nicht die gewünschte Wirkung, die Türe blieb zu.
Offenbar war das Gefährt tatsächlich aus der Pionierzeit der
Gleisfahrzeuge. Im allerletzten Moment konnte ich meinen Fuss noch
ins Wageninnere retten. Die Bahn
fuhr bereits weiter. Ich war der einzige Passagier, Lona konnte ich
durch die kleinen Fenster schon nicht mehr sehen.
Ich ging davon aus, dass ich nur kurz durch eine Wendeschleife gegurkt
werde und gleich wieder an der Abgangshaltestelle aussteigen konnte.
Die Bahn fuhr jedoch immer weiter weg. Draussen sah ich ein abgewohntes
Industriegebiet mit vielen leerstehenden Fabrikhallen. Es
gab keine Kurven und die Bahn fuhr immer geradeaus. Entlang an
einer Hafenanlage bis hin zu einem offenen Gewässer. Der
Zürichsee? Ich wusste es nicht. Auf dem Wasser waren etliche Schiffe zu sehen. An den Hafenmolen
wurde emsig gearbeitet. Kähne gelöscht und beladen.
Lärm drang in die Strassenbahnkabine. Plötzlich verlangsamten
wir die Fahrt und fuhren in eine Kurve. Eine langgezogene Rechtskurve
quer über die Wasseroberfläche. Eine Brücke konnte ich
keine ausmachen, offenbar fuhren wir unmittelbar auf dem Wasser. Mir
wurde wieder bang. Ich fragte mich, ob dies der See Genezareth sei und
ob ich bereits in der Jesusbahn sass. Kalter Schweiss rann mir aus den
Poren. Ich rannte in der leeren Bahn umher, wollte aussteigen. Wir
erreichten ein Eiland und fuhren - jetzt wieder ein wenig
schneller - durch eine verlassenen Stadt. Nach einer Weile fuhr die
Bahn in ein Gebäude hinein. Ein Werkhof oder eine Tramgarage,
schwer zu sagen. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir nicht auf Schienen
fuhren, sondern auf dem nackten Pflaster. Ich fühlte mich wie ein
Brocken Zerkautes, das durch eine Speiseröhre gedrückt und
der Verdauung zugeführt wird. Die Bahn schlängelte sich durch
diverse Hallen und kam in einer Montagebucht zum Stehen. Wir mussten
mittlerweile tief im Innern des Gebäudes sein. Die Tür
schwang auf und ich rannte sofort raus. Der Tramführer sowie zwei
weitere Männer in Lederschürzen die in der Halle herumstanden
schauten mir verdutzt zu wie ich die Bahn verliess und das Weite
suchte. Keiner rührte sich oder sprach zu mir.
Da wir nicht, wie es für Strassenbahnen üblich ist, auf einem
Gleis gefahren waren, hatte ich beträchtliche Schwierigkeiten den
Ausgang zu finden. Ich irrte umher und befand mich plötzlich in
einer Fabrikhalle die mir fremd vorkam. Ich konnte mich nicht daran
erinnern diese Halle von der Bahn aus gesehen zu haben. In der Halle
waren ein paar riesige Maschinen aufgebaut, die mich entfernt an
die Drehbänke aus meiner Mechanikerlehre erinnerten. Die Maschinen
waren allerdings so dermassen gross, dass an jeder einzelnen
ungefähr zehn Arbeiter standen und sie bedienten. Die einen
Arbeiter rollten von grossen Rollen Fasergewebe
auf eine sich langsam drehende Spindel. Andere bestrichen die so
entstandenen Gebilde mit einer übelriechenden, harzartigen
Flüssigkeit und wieder andere schnitten mit laut kreischenden
Handschleifmaschinen Löcher in die ausgehärteten Rohre.
Schnell erkannte ich, dass hier offenbar die Kunstoffkarossen der
Strassenbahnen entstanden. Ein Deckenkran transportierte die fertigen
Gebilde auf ein Förderband auf welchem sie in einer weit
entfernten Ecke der Halle verschwanden. Ich hatte hier nichts verloren
und rannte weiter. Ich fand aber in der ganzen Halle keine Tür
durch die ich flüchten konnte. Die Dämpfe des Harzes griffen
bereits meine Atemwege an. Ich geriet in Panik und versuchte über
ein Gerüst das Dach der Halle zu erreichen. Ehe ich auch nur in
die Reichweite eines Dachfensters kam ergriff mich der riesige
Greifarm, wirbelte mich herum und drückte mich auf die leere
Spindel einer der Maschinen. Das letzte was ich wahr nahm, waren
die blutunterlaufenen Augen eines Arbeiters. Er kam mit einer Packung
Fasergewebe auf mich zu und rollte mich damit an der Spindel fest
als wäre ich Teil eines Druckverbandes. Ich drehte mich langsam
mit der Spindel, es wurde dunkel und ich verlor mein Bewusstsein.
D J B r u t a l o @ S ç h n u l l i b l u b b e r.ç h
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