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28. September 2022 Ãœber Russinnen und Kameldung Die Firma, die mir Aufgaben mit Dienstleistungscharakter zum Erledigen überträgt und mir dafür als Gegenleistung bei einem Geldinstitut meiner Wahl Zertifikate so hinterlegt, dass ich mir jederzeit von bestimmten Maschinen, die ihrerseits in Aussenwände von Häusern eingelassen und von der Strasse her zu bedienen sind, Wertpapiere aushändigen lassen kann, die ich dann später in der veganen Metzgerei gegen Jackfruit und Möhrchen eintausche, lud uns neulich zu einem sogenannten Seminar ein, das zum Thema hatte: Zeitmanagement beim Arbeiten im Dienstleistungssektor. Ein Workshop wurde in Aussicht gestellt und ich war bereits Tage davor vor lauter Aufregung und Vorfreude zu nichts mehr zu gebrauchen. Der Tag kam und das Seminar begann. Schnell stand fest, dass meine Vorfreude völlig unbegründet war und während das Seminar so vor sich hin stattfand, zogen meine Gedanken weiter und erkundeten unerforschte Regionen meiner Denkkammer. Auf der Suche nach vergessenen Erinnerungen stiess ich nicht selten auf Trümmer von Erlebnissen, die ich gar nicht erlebt haben konnte. Gelegentlich holte mich der Seminarleiter zurück in die reale Welt, in dem er laut meinen Namen rief oder Kaffeepausen ankündigte. Es wurde viel über das Eisenhower-Prinzip geredet, welches offenbar dazu angewendet werden kann, zu erledigende Aufgaben zu gruppieren in solche, die wichtig sind und in solche, die dringend zu erledigen sind. Der Seminarleiter empfahl uns, regelmässig die Menge unserer Aufgaben von ferne zu betrachten und diese Gruppierung vorzunehmen. Mindestens aber einmal pro Tag. Ich stellte mir gerade vor, wo ich die Zeit dafür hernehmen soll. Abends im Stau, wenn ich nach Hause fahre? Morgens unter der Dusche oder beim Anstehen für einen Coffee To Go? Er bezeichnete die Muster, welche zu einem nicht funktionierenden oder einem fehlenden Zeitmanagement führen, als Krankheiten und benannte sie entsprechend. Alle anwesenden erkannten sich nun in der langen Liste dieser Krankheiten wieder. Selbst ich. War ich doch stets der Meinung gewesen, kein Problem mit Zeitmanagement zu haben. Meine unüberschaubaren Aufgabenhaufen einzig ein Produkt sei, welches die Anderen produzierten. «Gebt mir weniger Aufgaben, dann werden die Haufen kleiner und Ihr könnt mich dahinter wieder erkennen.», schreie ich ihnen durch die Aufgabenhaufenschluchten entgegen, wenn sie mir mit Zeitmanagement kommen. Die Krankheit, in der ich mich als ein daran erkrankter wiederfand, nennt sich gemäss dem Seminarleiter Naklaritis. Sie äussert sich dadurch, dass der oder die daran erkrankte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit: "Ja klar mach ich. (Schmeiss es da auf den Haufen links, ich werde mich gleich darum kümmern). Unkontrollierbare To-do-Listen seien das, nicht Aufgabenhaufen belehrte mich der Seminarleiter, nach dem ich eine dumme Frage eines Betroffenen stellte. Ich schwelgte bereits wieder in meiner Gedankenwelt. To-do-Listen erinnern mich nämlich ohne Umschweife an Crazy Horst. Er war der Meister in Naklaritis. Crazy Horst hatte eine regelrechte Naklarose. Wenn man etwas von ihm wollte, so liess er alles stehen und liegen und kümmerte sich darum. Selbst Sitzungen auf dem Scheisshaus unterbrach er damals, nur um mir kaum überlebensfähigen Wurm beim Zusammenfalten der Bettwäsche zur Hand zu gehen oder den Vergaser zu tauschen. Neues war für ihn immer am wichtigsten und schob sich zuoberst auf seine To-do-Liste. Alles andere rückte dadurch in den Hintergrund und bildetet letztlich die Liste. Wenn aber Crazy Horst schon das ein oder andere Astra gesüffelt und mit Korn oder Mexikanern nachgespült hatte, sortierte sich seine To-do-Liste plötzlich wie durch Zauberhand. In diesem Zustand erzählte er mir immer davon, wie sehr es in ärgerte, damals, aus welchen nicht mehr nachvollziehbaren Beweggründen die Einladung seiner russischen Freunde in einen tscheljabinsker Puff nicht wahrgenommen gehabt zu haben. An russischen Frauen hatte Crazy Horst so dermassen den Narren gefressen, dass es schon fast rassistische Züge hatte. Natürlich hatte er auch die Gründung einer Familie auf seiner Liste oder den Bau eines Hauses. Im Suff jedoch leuchte der Bordellbesuch in Tscheljabinsk zuoberst. Auch wenn ich Crazy Horst stets als meinen Mentor betrachtete, wenn es um das Erstellen von To-do-Listen ging, so hatte ich gleichwohl das Gefühl, dass es ihm durchaus auch gelang, Wichtiges von Dringlichem zu trennen und es entsprechend zu priorisieren oder zu erledigen. Ich erinnerte mich an eine Aktion, die sich zeitlich in den ominösen Nullerjahren zugetragen haben musste. Auf dem Zeitstrahl der Geschichte, mittig verpackt in diesem verflixten ersten Jahrzehnt des noch frischen Jahrtausends, in welchem wir gerade stecken und aus welchem wir wohl, wie es aktuell den Eindruck macht, kaum lebend wieder herauskommen werden, war das. Crazy Horst hatte zuoberst auf seiner To-do-Liste plötzlich eine Aufgabe die Energieversorgung der Stadt auf nachhaltige Beine zu stellen. Ob ihm im Traum Elvis erschienen ist und ihm einen Befehl erteilt hatte, oder ob er aus einer plötzlichen Eingebung heraus mit beängstigendem Aktionismus aufgetankt wurde, war nicht in Erfahrung zu bringen. Puffbesuch, Hausbau und Zähneputzen mussten warten. Crazy Horst hatte sich einen alten Henschel mit Anhänger beschafft und wollte mit dem Gespann «nach Afrika» fahren, wie er sagte. Am Vorabend der Reise erzählte er mir in der Astrastube haarklein die ganzen Details seiner geplanten Reise - ja von «seiner Mission» war die Rede. Ich weiss noch, dass er sich in Afrika (in welcher Ecke Afrikas weiss ich nicht mehr) eine Ladung Kameldung beschaffen wollte, damit zurück nach Hamburg fahren und den dann auf den Wochenmärkten in Wandsbek, Hoheluft und Eppendorf als The next big thing der nachhaltigen Energieträger an die reichen Member der sich damals gerade etablierenden Ökobourgeoisie verticken wollte. Dies natürlich zu völlig überhöhten Preisen und dies nur so lange, bis der (oder die) Nächste den Braten gerochen und den Kameldungmarkt mithilfe von Dumpingpreisen (ha!) übernommen haben würde. Er rechnete damals in der Astrastube mit zwei, höchstens drei Afrikafahrten und mit Gewinnspannen im zweistelligen Prozentbereich. Eigentlich hätte ich es ihm ausreden müssen, schon nur des Henschels wegen. Aber Crazy Horst glühte vor Enthusiasmus und es war Ehernsache, dass ich ihn in seinen Träumen unterstützte. Wozu sind Freunde sonst da? Wir verloren uns dann leider eine Weile aus den Augen und ich fragte ihn später nie danach, wie sich der Kameldunghandel entwickelte. Eigentlich schade, denn Crazy Horst hatte zuvor und danach immer ein goldenes Händchen mit neuen Geschäftsideen entwickelt. Ein König des Pop Up Business würde man wohl heute dazu sagen. Diese Geschichte wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Eigentlich ging es mir darum, die eingangs als Feind des Zeitmanagements gebrandmarkte To-do-Liste zu rehabilitieren oder den Text nicht zu beenden, ohne vorher noch auf einen nicht zu vernachlässigenden Vorteil der To-do-Liste hingewiesen gehabt zu haben. Es kommt nämlich durchaus vor, dass Aufgaben, die irgendwo in den unendlichen Weiten der Aufgabenhaufen stecken und den Listen dadurch Stabilität verleihen, plötzlich und automatisch hinfällig werden. Wenn man zum Beispiel – gewollt oder ungewollt sei hier dahingestellt – eine Aufgabe, die uns ein Kollege gestellt gehabt hat über die Jahre unerledigt «mitnimmt», so wird man plötzlich von seiner Pensionierung überrascht, oder es kommt vor, dass der Auftraggeber nach seinen Sumatraferien nicht mehr in die Schweiz zurückkehrt. Blöd ist es, wenn man solche Aufgaben bereits erledigt hatte. Ich muss gleich heute Crazy Horst anrufen. Es würde mich stark wundern, wenn sich der Bordellbesuch in Tscheljabinsk zwischenzeitlich von selber erledigt hatte. D J B r u t a l o @ S ç h n u l l i b l u b b e r.ç h
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